Einheit 2. Der lange Weg in Richtung Frauenrechte und Gleichstellung in der Europäischen Union
Über Jahrhunderte hinweg haben Frauen darum gekämpft, die gleichen Möglichkeiten und Rechte wie Männer zu haben. Ob sie nun als Feministinnen bezeichnet wurden oder nicht, sie haben die ersten Schritte unternommen, um feministische Bewegungen zu formen. Es war während der Französischen Revolution, als die europäischen Frauen begannen, sich die Forderungen nach sozialer Gleichheit auf die Fahne zu schreiben und unter dem Motto "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" auf Versailles marschierten.
In jenen Jahren wurden die ersten Forderungen nach politischen Rechten für Frauen formuliert, die Frauen als Bürgerinnen etablieren sollten. Eine wichtige Errungenschaft war die von Olympe de Gouges 1791 verfasste „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“. Dies ist eines der ersten historischen Dokumente, in dem die Gleichberechtigung bzw. rechtliche Gleichstellung und das Frauenwahlrecht verteidigt werden.
Die Frauen wollten sich an der Gestaltung des Staates beteiligen, an der Schaffung von Gesetzen, denen sie bisher nur unterworfen waren. Es entstanden Frauenrechtsbewegungen, in Deutschland zum Beispiel mit Marie Juchacz, Käthe Schirmacher, Anita Augspurg, Clara Zetkin, Marie Stritt und Louise Otto-Peters an der Spitze. Feministische Gruppen in der Arbeiterbewegung ließen sich von Friedrich Engels 1884 verfasster Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ beeinflussen. Einige von ihnen gründeten Vereinigungen und bald darauf auch Frauenwahlrechtsbewegungen auf nationaler und internationaler Ebene. Nach der Gründung der National American Woman Suffrage Association in den Vereinigten Staaten im Jahr 1890 wurden in Großbritannien 1897 die National Union of Women's Suffrage Societies, in Deutschland 1902 der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht und in Frankreich 1909 die Union Française Pour le Suffrage des Femmes gegründet. Diese Organisationen waren Mitglieder der 1904 in Berlin gegründeten International Woman Suffrage Alliance (heute: International Alliance of Women), die sich als Menschenrechtsbewegung verstand. Nach jahrzehntelangem Kampf und Lobbyarbeit erlangten die Frauen im zwanzigsten Jahrhundert in verschiedenen europäischen Staaten schließlich das Wahlrecht.
Während das Wahlrecht den Frauen in einer Reihe von US-Bundesstaaten bereits seit 1869 zugestanden wurde, war Finnland das erste europäische Land, das 1906 im Zuge einer Wahlrechtsreform diesen Schritt tat. Es folgten Norwegen im Jahr 1907 und dann Dänemark und Island im Jahr 1915. Der Erste Weltkrieg schuf die Voraussetzungen für die Einführung des Wahlrechts in einer Reihe von Ländern: Russland 1917 (nach der Revolution), Lettland, Estland, Polen, das Vereinigte Königreich (bis 1928 nur Landbesitzerinnen über 30), Deutschland und Österreich (nach dem Sturz der Monarchien und der Errichtung von Republiken) 1918, gefolgt von den Niederlanden und Luxemburg 1920. In Spanien gewährt die neu gegründete Zweite Republik 1931 den Frauen das Wahlrecht. 1929 gewährt Rumänien den Frauen ein eingeschränktes Wahlrecht. Die Französinnen erhielten dieses Recht im April 1944 auf Wunsch von Charles de Gaulle. Italienische und slowenische Frauen (Slowenien als Teil der ehemaligen jugoslawischen Föderation) erhielten das Wahlrecht im Jahr 1945. In Griechenland musste die Einführung einer parlamentarischen Monarchie abgewartet werden, um das allgemeine Wahlrecht in der Verfassung von 1952 zu verankern.
Diese Nachkriegszeit war durch den Beginn des so genannten neuen Feminismus gekennzeichnet und wurde durch die Namen von Simone De Beauvoir und Betty Friedan geprägt. Schon damals wurde über das Patriarchat, die Gleichheit von Männern und Frauen und die Rechte der Frauen an ihrem Körper gesprochen. Simone De Beauvoir veröffentlichte 1949 Das andere Geschlecht, wo sie formulierte: „Man wird nicht als Frau geboren, sondern man wird zur Frau“. In den 70er Jahren betonte Kate Millet in Sexual Politics die politische Dimension von Sexualität und dass keine intellektuelle und emotionale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern gäbe. Die amerikanische Psychologin Betty Friedan prangerte in Der Weiblichkeitswahn an, dass stereotype Rollenbilder, die Frauen in den fünfziger Jahren aufgezwungen wurden, zur Selbstzerstörung führten. Ab den 1980er Jahren entwickelte sich auch die Queer-Bewegung, die die Einteilung von Individuen in universelle und feste Kategorien von männlich und weiblich hinterfragt. Die sexuelle Identität wird so mehr und mehr auch in der breiten Bevölkerung wahrgenommen als das Produkt einer kulturellen Konstruktion und nicht Teil eines biologischen Determinismus. Dies wird mit dem Wort ‚gender‘ zusammengefasst.
Heute gibt es viele Bewegungen, die versuchen, sich von vereinheitlichenden Geschlechtervorstellungen zu lösen. Sie fördern stattdessen eine realitätsnahe Vielfalt, und in der Tat hat diese Arbeit bereits einige Früchte getragen. So haben beispielsweise Frauen von allen Kontinenten über die Vereinten Nationen, Nichtregierungsorganisationen oder Verbände verschiedene Aktionsstrategien entwickelt. Im Jahr 1995 wurde auf der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking das bis heute umfassendste Konzept zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter von 189 UN-Mitgliedstaaten verabschiedet mit dem Ziel, dass jede Frau und jedes Mädchen ihre Freiheiten und Wahlmöglichkeiten wahrnehmen und ihre Rechte verwirklichen kann: ein Leben frei von Gewalt, Bildung, selbst Entscheidungen über ihr Leben treffen zu können und gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit zu erhalten. Mehr als zwanzig Jahre nach der Verabschiedung der Erklärung und der Aktionsplattform von Peking hat noch kein Land die Gleichstellung der Geschlechter erreicht, und die alltägliche Diskriminierung von Frauen hält weiter an. Aus diesem Grund kämpfen Frauenrechtler*innen auf der ganzen Welt weiterhin für die Verbesserung der Lebens- und Sozialbedingungen von Frauen.